In Geschäftsidee, Idee - Gastro

Im Zeitcafe in Wiesbaden wird nach Zeit abgerechnet

Vor mehr als einem Jahr habe ich hier im Blog über das Babochki Anticafé in Moskau berichtet: “Im Babochki Anticafe in Russland kostet der Aufenthalt 1,5 Rubel pro Minute (umgerechnet 0,04 EUR pro Minute). Dafür sind Tee, Kaffee, Kuchen und Desserts kostenlos. Andere Lebensmittel und Getränke können kostenlos mitgebracht werden (es gibt kein “Korkgeld”). Weiterhin stehen kostenlos Brettspiele, XBox und ein Kinosaal zur Verfügung. Und natürlich gibt es auch eine kostenfreie WLAN-Anbindung.”

In Moskau gibt es zahlreiche solcher Minuten-Flatrate-Cafes. Also warum sollte das in Deutschland nicht auch funktionieren? Das dachte sich die Musikstudentin Daria Volkova und hat im April 2013 das “Slow Time Das Zeitcafé” in der Nerostraße 39 in Wiesbaden eröffnet. Am Eingang erhält man ein Bändchen, auf dem die Eintrittszeit vermerkt wird. Wenn man wieder geht, wird auf die Uhr geschaut und nach Zeit abgerechnet. Folgendes Preismodell liegt der Berechnung zugrunde:

Eintritt – 2 EUR pro Person ( 30 Minuten inklusive),
ab der 31. Minute – 0,05 EUR pro Minute.
Also: erste Stunde – 3,50 EUR und jede weitere nur 3 EUR!
Kinder bis 6 Jahre kostenlos, von 6 bis 12 zahlen sie nur die Hälfte.

Dafür erhalten die Gäste an der Selbstbedienungstheke kostenfrei Kaffee, Tee, Saft, Kekse und andere Süßigkeiten, so viel sie in der Besuchszeit trinken und verzehren können und wollen. Weiterhin ist der WLAN-Internet-Zugang kostenfrei und man kann sich vor Ort auch Bücher, Brettspiele und sogar Hausschlappen ausleihen. Die Einrichtung des Cafes erinnert eher an ein Wohnzimmer zu Omas Zeiten. Das ist gewollt, denn schliesslich sollen sich die Gäste hier wie zu Hause fühlen. Allerdings sind die Besuchszeiten limitiert: Das Zeitcafe ist von Montag bis Samstag von 12-21 Uhr geöffnet.

Und der Mut für dieses hier in Deutschland ungewöhnliche Konzept wird anscheinend belohnt, denn die Presse stürzt sich auf das Thema. Nicht nur die örtliche Presse hat schon berichtet, sondern auch Spiegel Online, HR3-Fernsehen und ZDF. Das ist auch nötig, wenn man den aktuellen Berichten über das ZeitCafe glauben darf. Denn das Cafe befindet sich nicht in A-Lage und es braucht laut Spon-Bericht mind. 11 Gäste pro Stunde, damit sich das Konzept rechnet. Neben guter Presse braucht es auch nach Ansicht der Gründerin viele Aktionen, wie z.B. Spiele- und Musikabende, um das Cafe noch attraktiver und bekannter zu machen.

In einigen Monaten wissen wir, ob das Konzept “aufgegangen” ist oder nicht. Ich persönlich bin skeptisch, denn in Moskau haben die Minuten-Flatrate-Cafes u.a. auch deshalb solch einen Erfolg, weil viele Gäste diese als “Co-Working-Space” oder “Meeting-Räume” benutzen und zudem die Gastronomiepreise viel höher als hier in Deutschland sind. Solch eine Verwendungsmöglichkeit als CoWorking-Space ist aufgrund der Lage und begrenzter Raumkapazitäten in Wiesbaden wohl gar nicht möglich. Und in benachbarten Cafes kann man auch günstig eine Tasse Kaffee trinken, sogar mit Bedienung und ohne gefühlten Zeitdruck.

Hat das Konzept des Zeit-Cafes trotz der Bedenken eine Chance in Deutschland? Ich bin davon überzeugt. Entweder als Kombination aus Cafe und CoWorking-Space oder z.B. mit Hilfe von Werbepartnern. Man könnte z.B. regelmäßig Produktproben anbieten, um sich ein Teil der Miete vom Werbepartner bezahlen zu lassen. Oder man könnte als Touristenanlaufstelle fungieren. Oder, oder, oder. Es ist meist ein langer Weg, bis aus einer guten Idee auch ein erfolgreiches Business wird. Leider bleiben dabei häufig die “Pioniere” auf der “Strecke”.

P.S. Es gibt in Deutschland schon mindestens eine gastronomische Einrichtung, die nach Zeit abrechnet. Das ist die Kneipe “Die Stechuhr” in Cloppenburg. In dieser Kneipe müssen die Männer für die erste Stunde 8 EUR, für die zweite 7 EUR und für jede weitere Stunde 4 EUR “Eintritt” bezahlen. Gezahlt wird für jede angebrochene Stunde. Dafür kann an der Bar aus einem großen Angebot von Bier bis Schnaps ausgewählt werden. Und Frauen kommen zu günstigeren Konditionen rein. Klingt nach “Druckbetankung”.

Update 4.6.2013: Jan Theofel hat mich zudem auf das Angebot vom Unperfekthaus hingewiesen: “Das Unperfekthaus ist einer der großen Treffpunkte im Ruhrgebiet. Träger des Kulturpreises 2007 und weiterer Auszeichnungen. Täglich 10-23 Uhr wie eine Kneipe geöffnet. Eintritt 6,50€ für bis zu 5h inkl. beliebig viel Milchkaffee, Tee, Cola, Limo, Wasser, Espresso, Kakao,…, Internet, Coworking, Tischtennis, Ruheliegen, Kicker, Kunstkaufhaus, Kuschelecken uvm.. Tagesticket 10,50€, Schnupperticket 1h nur 4€. Evtl. Speisen oder Alkohol bitte in eine Verzehrkarte eintragen lassen und beim Verlassen des Hauses auf Vertrauensbasis zahlen – All-you-can-eat-Buffets zahlt man nur einmal und kann solange essen, wie das gelöste Ticket gilt!”

Update 2.8.2013: Das Zeitcafe hat leider am 1.8. die Türen geschlossen, wie wir im Artikel schon befürchtet haben. Ich bin aber sicher, dass das Konzept Zukunft hat, nur in anderer Form. Einige Ideen habe ich im Artikel oben bereits dazu beigesteuert.

6 Responses to Im Zeitcafe in Wiesbaden wird nach Zeit abgerechnet

  1. Jan Theofel sagt:

    Im Prinzip gibt es das in ähnlicher Form auch im Unperfekthaus in Essen. Dort gibt es verschieden lange Eintrittstickets – mit WLAN und Getränken. Dazu aber auch Tischtennis, Räume, Essen, … Aber das kennst du ja sicherlich schon, oder?

  2. Hallo Jan,

    dank Dir für den Tipp. Ich habe zwar im Jahr 2007 schon über das Unperfekthaus unter http://www.best-practice-business.de/blog/geschaeftsidee/2007/08/04/das-erste-wg-hotel-deutschlands-gibt-es-in-essen/ berichtet, allerdings die weitere Entwicklung nicht verfolgt. Werde ich gleich mal oben ergänzen.

    Gruss

    Burkhard

  3. Jan Theofel sagt:

    Danke für die Ergänzung. Ist als Barcamp-Junkie eine wichtige Location in Deutschland! 🙂

  4. Corinna sagt:

    Hallo!
    In Düsseldorf gibt es im Coworking Space GarageBilk ( http://www.garagebilk.de/ ) ein ähnliches Konzept, und es ist für die nahe Zukunft eine Verbindung von dieser Art Zeitcafé und Coworking geplant. Aber schon jetzt gibt es verschiedene Tickets, die Kaffee und WLAN beinhalten und natürlich die Nutzung der Räumlichkeiten. 🙂

  5. Hallo Corinna,

    über klassisches CoWorking habe ich hier im Blog ja schon häufig berichtet. Im Rahmen dieses Artikels berichte ich über Angebote für Privatpersonen (evtl. auch kombiniert mit Business Co-Working) nach dem Motto: “Cafe auf Zeit”. Insofern bin ich gespannt, wann ihr Euer Angebot entsprechend erweitert, um dann hier gerne zu berichten.

    Gruss

    Burkhard

  6. Gerd P. Werner sagt:

    Ein interessanter Artikel, vielen Dank!

    in einem diskussionsbeitrag in facebook habe ich diesen aus russland kommenden impuls eingeordnet in die umfangreichere betrachtung unserer modernen zivilisation, die von mitteleuropa aus einen bisher überbetonten westlichen flügel hat, dem in zukunft mehr wachsen des östlichen flügels not tut.

    hier der facebook-link zu der dortigen diskussion:

    https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=979298725434922&id=100000644109209

Schreibe einen Kommentar